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DIE WELT

Falsche Folklore am Fließband

Was ist authentische Kunst, was ist Touristenkitsch? Ein postkolonialer marokkanischer Bilderstreit

Das Königshaus war nicht erbaut: eine schielende Kuh in Marokkos Staatsbanner! Ein subversiver Scherz? Eine subtile Reverenz an Andy Warhol? Keines von beiden! Es war "nur" eine Einladung zur Vernissage in die Straßburger "Laiterie", einst Molkerei, heute Kulturzentrum, in der die Ausstellung "Essaouira: Artistes singuliers" steigen sollte - als Auftakt des 1999 in Frankreich zelebrierten Marokko-Jahres "Le Temps du Maroc", das den Franzosen in einem kostspieligen Kulturmarathon Kunst und Literatur ihres südlichen Nachbarn näher bringen sollte.

Über Nacht wurde die bunte Kuh auf rot-grünem Grund aus dem Verkehr gezogen und hat heute Sammlerwert: Französische Journalisten sollen auf der Jagd nach dem Corpus delicti in Essaouira, Marokkos Künstlerhauptstadt, schon horrende Summen geboten haben. Denn was als Hommage gedacht war und sich als Fauxpas erwies, war in der Tat nur der letzte Schritt in einer Farce um Kunst und Kommerz, die seit langem die Künstlerszene Essaouiras entzweit und im Kontext des französischen Marokko-Jahres eine offene Polemik in der marokkanischen Presse entfacht hat, die zunehmend weitere Kreise zieht.

Essaouira, die pittoreske Hafenstadt, bekannt als Hort raffinierten Kunsthandwerks, wie es sich über Jahrhunderte im kreativen Miteinander jüdischer, muslimischer und christlicher Bevölkerungsteile im alten Mogador entwickelt hat, wird seit einigen Jahren von einer bunten Welle mystisch-naiver Malerei überschwemmt, die dem Tagestouristen aus Boutiquen und Bazaren entgegenlacht. Jene aber, die sich als seriöse Künstler begreifen, fürchten in dieser Flut unterzugehen.

Vermeintlicher Urheber diesen Übels: der kultivierte dänische Gentleman Frédéric Damgaard, der, wie so viele Feingeister vom stillen Charme Essaouiras angezogen, sich 1988 dort niederließ und eine Galerie eröffnete, welche alsbald zu einer Institution avancierte. Nach anfänglicher Freundschaft und späterem Zerwürfnis mit den beiden international bedeutendsten Künstlern der Stadt - Hussein Miloudi sowie Boujema Lakhdar - verlegte sich Damgaard darauf, unter den jungen Leuten vom Land auf Talentsuche zu gehen.

Er wurde fündig und zog eine eigene Malerschule heran, die unter dem Namen "Ecole d'Essaouira" inzwischen international Furore macht. "Il fait naître des artistes" - sagen die Souiris über ihn, er bringe Künstler zur Welt, gleich dutzendweise, und zu Hunderten hält er ihre Bilder feil, in seiner Galerie in Essaouira, und im Marokko-Jahr einen Kultursommer lang auch in Frankreich. Sie waren in Straßburg und in Barbizon zu bestaunen, in Dourges, dann in La Rochelle, in Lyon, in Pézenas und zum krönenden Abschluss in Saint-Etienne und Paris: Mohamed Tabal, Vater der anstößigen bunten Kuh, und mit ihm etliche seiner Malerkollegen, Rachid Amarhouch und Mostapha Assadeddine, Abdelkader Bentajar und Abdelhaq Balhak, Abdelmalek Berhiss und Regragui Bouslai, Ali Maimoune und Brahim Mountir, die Brüder Hamou und Youssef Ait Tazarin, Fatima Ettalbi als einzige Frau sowie Abdellah Elatrach und Said Ouarzaz.

Allesamt Künstler der naiven Art, Analphabeten, deren ungezügelte Fantasie und knallbuntes Farbrepertoire das europäische Publikum in der Regel zu enthusiastischen Reaktionen hinreißen, wie seit Jahren die Ausstellungserfolge in Deutschland und Dänemark, Frankreich und der Schweiz, Belgien und Portugal belegen.

Das Ganze wird orchestriert von einem wissenschaftlichen Diskurs aus der Feder begeisterter Ethnologen und Kritiker wie dem französischen Gnawa-Forscher Georges Lapassade, die die akademieferne Frische der malenden Fischer, Maurer oder Bauern betonen, sie zur naiven, primitiven Stammeskunst erheben, zur "art tribal, primitif, naif", zur "Ecole de la Transe", mit Tabal als Galionsfigur, dem "Gnawa-Maler", über den zum letztjährigen Gnawa-Festival schon ein eigener Katalog erschien. Es werden Vergleiche bemüht mit der Kunst der australischen Aborigines oder der Voodoo-Malerei, wie sie seit den fünfziger Jahren auf Haiti existiert.

In der Tat ist das afrikanische Erbe in Essaouira sehr präsent, werden animistische Praktiken und Geisterbeschwörung von den Nachfahren jener Negersklaven, die Sultan Moulay Ismail sich einst aus dem Sudan, Mali und Guinea als Leibgarde und zur Arbeit auf den Zuckerrohr-Plantagen nach Essaouira geholt hat, im Rahmen des Gnawa-Kultes, wenn auch mit jüdisch-berberisch-muslimischen Elementen versetzt, nach wie vor zelebriert.

Sie prägen das kollektive Unterbewusstsein und drängen nicht zuletzt auf mancher Leinwand wieder an die Oberfläche. Erstaunlich kohärent und überraschend authentisch nennt Essaouiras prominenter Sohn, Königsratgeber André Azoulay, in seinem Geleitwort zum Katalog die Hervorbringungen von Damgaards Schützlingen, weist aber gleich darauf hin, dass die so genannten "artistes singuliers" in keiner Weise repräsentativ für ganz Essaouira seien.

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Umso größer war die Verwunderung auf Seiten der zahlreichen anderen Künstler der Stadt, bei der Auswahl für die Frankreich-Tournee zugunsten der Singulären übergangen worden zu sein. Alain Maneval, Ex-Arte-Programmdirektor, der für Frankreich auf Talentsuche in Essaouira war, hat sich wenig Freunde gemacht, indem er sich einzig von seinen persönlichen Präferenzen leiten ließ.

Schlagartig haben sie ihre Reserve verlassen und sich zu solidarisieren begonnen, die marokkanischen und europäischen Maler der Stadt, Einzelgänger, Eigenbrötler zumeist, die bislang für ihre Arbeit lebten und in den übrigen Galerien der Stadt - dem "Espace Othello International", der "Galerie Bab Sbäa" - ihr Forum fanden: Miloudi und Sanoussi, Harabida und Harrouz, Maria Bahtar, Abdellah Oulamine und Mohamed Zouzaf, Michel Vu, Roman Lazarev, Ruggero Giangiacomi und viele mehr.

Diskret pflegten sie sich sonst zurückzuhalten, wenn von den "neuen Wilden" die Rede war, doch ein Artikel, der Ende 1998 in der marokkanischen Wochenzeitung "Le Journal" erschien und des Dänen Monopol im Marokko-Jahr lakonisch mit der Professionalität des europäischen Galeristen begründete, die Kritik der Übergangenen dagegen als puren Neid abtat, löste eine Flut kollektiver und individueller Gegendarstellungen aus. Tenor der "Unabhängigen": Man empörte sich weniger, dass da einer Kunst und Kommerz verquicke und sich mit dem Export von "Folklore am Fließband" vielleicht eine goldene Nase verdiene, sondern machte sich Sorgen darüber, dass eine - wie man argwöhnt - Auftragskunst, die den beklagenswerten Bildungsnotstand ihrer Protagonisten zur Prämisse für "Authentizität" erhebt und in neokolonialer Manier den Mythos vom guten Wilden aufpoliert, dem Image Essaouiras wie dem Ansehen Marokkos schweren Schaden zufüge. So beklagte es Miloudi in seinem flammenden Pamphlet "J'accuse ...".

Naiv, wer sein Geld für naive Marokkaner ausgibt, wettert der marokkanische Schriftsteller Fouad Laroui und stellt die rhetorische Gegenfrage, ob man je naive Belgier oder Bayern in den internationalen Galerien gesichtet habe. Vor einer Geschichtsfälschung warnt Sanoussi: vor der Verfälschung der noch jungen, doch sehr differenzierten marokkanischen Kunstgeschichte, ihrer Reduzierung auf exotischen Touristenkitsch für zivilisationsmüde Westler. Die Mahnung der erzürnten Künstler an Medien und Kulturpolitiker, die Sache nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, scheint inzwischen erste Früchte zu tragen.

Sarkastische Schelte gab es in der marokkanischen Presse denn auch für den Arte-Themenabend Marokko, der nur die "Stammeskünstler" Essaouiras vorgeführt und eine große Chance zur Präsentation marokkanischer Gegenwartskunst verschenkt hat, wie sie in Marokkos neuen Privatmuseen für moderne Kunst, dem Musée de Marrakech der Fondation Omar Benjelloun oder der Villa des Arts der Fondation Ona in Casablanca, in ihrer ganzen Bandbreite zu besichtigen ist.

Und der "Bilderstreit von Essaouira" zeitigt weitere Folgen: Tabal hat sich inzwischen von Damgaard abgenabelt, um wenigstens manchmal eigene Wege zu gehen - er mochte wohl nicht länger nur als Maler im Dutzendpack vermarktet werden - und der renommierte Pariser Espace Ricard, in dem die "singuläre" Wanderausstellung zu Ende ging, hatte die Zahl der Künstler recht drastisch auf fünf reduziert. Wer immer dem Winterwetter hier zu Lande gen Agadir entflieht und von dort einen Kulturtrip ins nahe Essaouira einplant, kann sie alle in ihrem natürlichen Umfeld erleben, die "Stammes-" und die "freien" Künstler, in den Galerien der Stadt, im Musée Sidi Mohammed Ben Abdellah und vielleicht sogar im alten Festungsturm, Borj Bab Marrakech, den beim vergangenen Gnawa-Festival Künstler aus ganz Marokko zur Präsentation ihrer Essaouira-Visionen nutzten. Eine schielende Kuh war freilich nicht dabei.

Marokkanische Kunst im Netz:

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www.maroc.net

www.art-maroc-co.ma

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