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  4. Paris: Nach Terroranschlag im Bataclan suchen Familienmitglieder verzweifelt nach ihren Angehörigen

Ausland Paris unter Schock

Nach dem Terror im Bataclan fehlt von seiner Frau jede Spur

Konzertbesucher filmt Moment des Angriffs im Bataclan

Ein neues Video zeigt den Angriff auf das Bataclan. Ein Konzertbesucher filmt gerade die US-Band Eagles of Death Metal, als plötzlich Schüsse zu hören sind. Kurz danach bricht das Video ab.

Quelle: Die Welt

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Noch immer suchen Menschen verzweifelt in den Pariser Kliniken nach Freunden und Angehörigen. Die Stadt steht unter Schock. Trotzdem bemühen sich die Menschen mit letzter Kraft, dem Terror zu trotzen.

Serge Lauraine ist ein gebrochener Mann. Seine Schultern hängen kraftlos herab, die Hände hat er in den Taschen vergraben. Er steht an der Notaufnahme des Pariser Krankenhauses Saint Louis und braucht dringend Informationen. „Haben Sie meine Frau gesehen, ist sie hier?“, will er vom Pfleger am Empfang wissen. Der Mann gleicht den Namen mit einer Liste ab. Fehlanzeige.

Serge fällt noch einen Stückchen mehr in sich zusammen. Er hatte sich Hoffnungen gemacht. Nathalie Lauraine, 40 Jahre alt, wohnhaft in Paris und geboren in Moskau, wurde hier nie eingeliefert. Der Pfleger sagt, was er all den anderen Menschen vor Serge auch gesagt hat: „Klappern Sie alle Krankenhäuser ab. Es tut mir leid, wir können nicht helfen.“

Nach den terroristischen Anschlägen am Freitagabend in Paris wurden die mehr als 350 Verletzten über alle Krankenhäuser verteilt. Viele mussten notoperiert werden, Dutzende schweben in Lebensgefahr. Und es gibt Hunderte Angehörige und Freunde, die nicht wissen, was mit ihnen geschehen ist.

Tatsächlich macht sich Serge keine großen Hoffnungen mehr, das sieht man ihm an, auch wenn er es so direkt nicht sagt. Am frühen Samstagmorgen, vielleicht um halb eins, hat der Informatiker seine Frau zum letzten Mal lebend gesehen. Die beiden waren im Bataclan, beim Konzert der kalifornischen Band Eagles of Death Metal, als plötzlich auf die Gäste gefeuert wurde.

Serge und Nathalie gingen zu Boden, stellten sich eineinhalb Stunden lang tot. „Die haben auf alles gefeuert, was sich bewegt hat. Immer und immer wieder.“ Serge wurde dabei von einem Querschläger getroffen, ein glatter Durchschuss am Arm. „Wurde gestern operiert“, sagt er. „Geht schon wieder.“

Konzertbesucher filmt Moment des Angriffs im Bataclan

Ein neues Video zeigt den Angriff auf das Bataclan. Ein Konzertbesucher filmt gerade die US-Band Eagles of Death Metal, als plötzlich Schüsse zu hören sind. Kurz danach bricht das Video ab.

Quelle: Die Welt

„Die Terroristen sind mehrfach durch den Saal gelaufen und haben immer wieder Leute gesucht, die sich totstellen“, sagt Serge. „Wenn sich einer bewegt hat, haben sie ihm aus nächster Nähe in den Kopf oder Nacken geschossen.“ Während der Tat habe er gespürt, wie etwas Warmes über sein Gesicht lief. „Es war Blut von irgendjemand neben mir, den sie gerade erschossen hatten.“

Als die Polizei nach Mitternacht endlich das Bataclan stürmte, atmete Natalie nicht mehr. „Ich wusste nicht, was los ist. Ich dachte, sie ist vielleicht ohnmächtig geworden“, sagt Serge. Dann wurde er von Ärzten aus dem Saal getragen und von seiner Frau getrennt. Seitdem ist sie verschollen.

Der letzte Funke Hoffnung

Unschlüssig steht Serge nach der niederschmetternden Nachricht aus dem Saint Louis auf der Straße und raucht eine Zigarette nach der anderen. Er ist nicht allein, das gibt ihm ein wenig Kraft. Nathalies Ex-Mann Anton ist extra aus Moskau angereist. Zu zweit halten die beiden einen Pariser Stadtplan in den Händen, sie habe alle Krankenhäuser angekreuzt. „Weiter geht’s“, sagt Anton. „Lass uns ein Taxi nehmen.“ Serge nickt.

Er hat jetzt nicht die Kraft, eigene Entscheidungen zu treffen. Freunde von ihm haben Nathalies Bild in der Zwischenzeit auf Twitter gepostet: „Wir suchen Nathalie Lauraine, 40 Jahre alt, präsent im Bataclan.“ 89 Menschen sind in der Konzerthalle gestorben, immerhin 1500 Menschen waren vor Ort. Es gibt noch einen Funken Hoffnung.

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Die ist bei Magalie längst verloren. Die 25-jährige Studentin hat in den letzten 48 Stunden kaum geschlafen, aber sehr viel geweint, das sieht man ihrem verquollenem Gesicht an. Sie wird von zwei Freundinnen gestützt, als sie die Notaufnahme am Saint Louis betritt. Im Krankenhaus gibt es niemanden mehr, den sie besuchen könnte. Drei Freundinnen von Magalie sind tot. Erschossen auf der Terrasse vor dem „Carillon“, einer beliebten und stets überfüllten Bar, nur 500 Meter Luftlinie vom Saint Louis entfernt. „Sie standen einfach da, vor dem Laden und haben eine geraucht, als der Typ im Auto vorbeifuhr und geschossen hat“, sagt Magalie. Einfach so.

Eine Plastiktüte mit persönlichen Gegenständen

Die Ärzte kämpften mehrere Stunden vergeblich um das Leben einer der Frauen. Magalie schreibt den Namen der Freundin auf, zum Datenabgleich. Daneben das Geburtsdatum. 16. April 1988. Der Pfleger verschwindet mit dem Zettel und taucht Minuten später wieder auf. In der Hand hält er eine weiße Plastiktüte. Es sind die Kleider der Toten. Mit dieser Plastiktüte wankt Magalie ins Freie, unter den blauen Pariser Himmel.

Magalie hat an diesem Tag noch etwas vor sich. Aus zwei anderen Krankenhäusern müssen persönliche Gegenstände der toten Freundinnen abgeholt werden. „Wir müssen jetzt stark sein, verstehst du? Wir dürfen uns nicht geschlagen geben“, sagt Magalie unter Tränen. „Denn wenn wir das tun, dann haben die gewonnen.“

Neben den Toten und Vermissten gibt es auch noch diejenigen, die einfach nur Glück hatten. So wie Jean-Charles. Am Freitagabend rauchte der 31-Jährige vor dem „Petit Cambodge“ gerade eine Zigarette, als einer der Täter auf das beliebte Restaurant feuerte. „Der hat versucht, mich zu treffen“, sagt Jean-Charles, „aber ich konnte mich zwischen zwei Autos ducken.“ Stattdessen traf der Terrorist einen Passanten in die Beine, der ungebremst aufs Gesicht fiel. „Ich werde nie den Anblick dieses Mannes vergessen“, sagt Jean-Charles, „das Blut in seinem zerfetzten Gesicht.“

„Wir weinen, aber wir fürchten uns nicht"

Die Menschen in Paris versammeln sich auf den Straßen, um sich gegenseitig beizustehen und Stärke zu beweisen. Sie wollen nicht in Panik und Angst versinken. Niemand will hier den Terror gewinnen lassen.

Quelle: Die Welt

Er erzählt diese Geschichte wieder und wieder, steht offensichtlich unter Schock, auch noch Stunden nach der Tat. Wie viele Leute schwer traumatisiert sind und sich noch nicht einmal in ärztliche Behandlung begeben haben, ist schwer abzuschätzen. Fast jeder Pariser, mit dem man spricht, kennt jemanden, der wiederum jemanden kennt, den es erwischt hat.

Große Unternehmen wie L’Oreal schicken schon Stunden nach den Anschlägen Kondolenz-E-Mails über ihre Verteiler: „Mit unendlicher Traurigkeit haben wir vom Tod unseres Kollegen XY (Klarnamen schreiben wir nicht) erfahren, der Opfer der barbarischen Taten im Bataclan wurde. All unsere Gedanken gelten seiner Frau und seiner Familie.“ Eine psychologische Krisenstation für alle Mitarbeiter sei ab Montag zugänglich, heißt es.

Der verzweifelte Versuch, dem Terror zu trotzen

Diese Art Hilfe dürfte für sehr viele Pariser dringend nötig sein. Man sieht an diesem Wochenende den Horror in den Gesichtern der Menschen, ihre Angst, dass noch etwas und noch mehr passiert. So freudlos, so tieftraurig wirkte die Stadt noch nie.

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An den beiden Anschlagsorten in der Rue Alibert, wo Terroristen im „Petit Cambodge“ und „Le Carillon“ 15 Menschen erschossen, haben sich auch am Sonntag Hunderte versammelt. Sie legen Blumen nieder oder hinterlassen Botschaften an die Toten. Tenor: „Wir werden uns nicht geschlagen geben.“

Es sind Durchhalteparolen, die man von den Franzosen schon vom Attentat gegen „Charlie Hebdo“ kennt. Nach dem Motto: Die Terroristen hassen unsere Art zu leben, also feiern wir erst recht weiter. Und wenn einer sagt, dass er traurig ist, dann muntert ihn das Gegenüber auf: „Hör mal, wir dürfen nicht traurig sein, wir müssen widerstehen.“ Es klang selten so wenig überzeugend.

Trauer vor dem Bataclan: Eine Frau legt vor dem Konzerthaus Blumen für die Opfer des Attentats nieder
Trauer vor dem Bataclan: Eine Frau legt vor dem Konzerthaus Blumen für die Opfer des Attentats nieder
Quelle: dpa

An den Hauswänden in der Rue Alibert sind Dutzende Einschusslöcher zu sehen, die Polizei hat sie mit roter Farbe eingekreist. Auf dem Boden wurden Blutlachen notdürftig mit Sand bestreut, zwei Psychologinnen hängen Zettel aus, dass sich im Rathaus des 10. Arrondissements eine frisch eingerichtete Krisenstation für Angehörige der Opfer befinde.

Und an der Tür des „Petit Cambodge“ klebt ein schlichter Hinweis der Polizei, warum man das Restaurant leider schließen musste: „Morde im Zusammenhang mit einem terroristischen Unternehmen“.

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